Gesetzlich festgelegte eGovernment-Fristen einhalten Eine Frage der Rechtstreue
Ende Februar berichtete die Tagesschau mit „Statt eAkte doch noch länger Papier“ über erhebliche Verzögerungen, die es bei der im eGovernment-Gesetz von 2013 bis zum 1.1.2020 vorgesehenen Einführung der elektronischen Verwaltungsakte geben werde. Eine Umfrage bei den 14 Bundesministerien und dem Bundeskanzleramt habe ergeben, dass nicht einmal die Hälfte den pünktlichen vollständigen Übergang von der führenden Papierakte zur führenden eAkte schaffen werden.
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In dem Bericht hieß es weiter, dass zwar das Entwicklungshilfe-, Verkehrs-, Wirtschafts- und das Bundesforschungsministerium auf die eAkte umgestellt seien. Und es sei zu erwarten, dass zum Stichtag auch das Bundesumweltministerium und das Auswärtige Amt ihre Aktenführung auf Elektronik umstellen würden. Das Bundesfinanzministerium habe auf den in diesem Jahr anstehenden Test der eAkte und die anschließende schrittweise Einführung verwiesen. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz schaffe es zum Stichtag „überwiegend, wenngleich nicht vollständig“.
Das Bundeskanzleramt wolle die Einführung der eAkte nicht zu einem Stichtag einführen, man betrachte dies vielmehr als laufenden Prozess, der „im Laufe des Jahres 2020 abgeschlossen sein werde“. Das Verteidigungsministerium werde erst nach zwei weiteren Ausbaustufen (beginnend 2021) die eAkte im Ressort verfügbar machen. Das Bundesinnenministerium (BMI) gehe nach der aktuellen Planung davon aus, dass alle Geschäftsbereichsbehörden des BMI bis 2021 die eAkte eingeführt haben werden.
Verzögerungen sind die Regel
Die anderen Ministerien – wie das Landwirtschaftsministerium – warteten zunächst auf das Ergebnis eines Pilotprojekts „E-Akte Bund“, das erst seit Ende 2018 und bis Ende dieses Jahres in zwei Ministerien und drei Geschäftsbereichsbehörden getestet und danach eingeführt werde. Schließlich wurde das Bundesinnenministerium mit der Äußerung zitiert, dass die Soll-Vorschrift im § 6 EGovG absichtlich mit einem ehrgeizigen Ziel-Termin (1.1.2020) formuliert worden sei, auch wenn absehbar gewesen wäre, dass eine 100-prozentige Umsetzung zum Stichtag kaum erreichbar sein würde.
Dass die Einführung der elektronischen Verwaltungsakte in den Ministerien und im Bundeskanzleramt das Einführungsziel 1.1.2020 verfehlen wird, führt zu Problemen bei der Digitalisierung innerhalb der Bundesverwaltung insgesamt. Denn die elektronische Akte ist das Herzstück einer elektronischen Verwaltung. Nutzen die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen verstärkt die elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten, dann müssten in den Verwaltungsbehörden ohne eine führende eAkte die elektronischen Dokumente ausgedruckt und die Ausdrucke den offiziell geltenden („führenden“) Papierakten hinzugefügt werden. Erwarten die Bürger wiederum eine elektronische Antwort – etwa im Sinne eines elektronischen Bescheids – wären die Papierdokumente einzuscannen, es entsteht somit ein „doppelter Medienbruch“.
Wenn § 1 Abs. 1 Onlinezugangsgesetz (OZG) Bund und Länder dazu verpflichtet, bis Ende 2022 ihre Verwaltungsleistungen auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten, dann folgt daraus zwar keine Verpflichtung zur behördeninternen elektronischen Weiterverarbeitung. Ohne eine Digitalisierung verwaltungsinterner Prozesse droht aber der Verwaltung in Bund und Ländern der Kollaps, weil die Konsequenz eines massenhaften Ausdruckens von eingehendem Papiermaterial nicht verkraftbar wäre.
Bedenklich ist vor allem, wenn die Bundesregierung eine jetzt absehbare Gesetzesverletzung verharmlost, indem sie formuliert, „ein selbst gestecktes Ziel der Bundesregierung zu verfehlen“. Denn bei der gesetzlichen Fristsetzung handelt es sich nicht nur um einen Programmsatz oder eine leicht anpassbare Verwaltungsvorschrift.
Die Pflicht zur Einführung der elektronischen Akte in der gesamten Bundesverwaltung ergibt sich aus § 6 EGovG: „Die Behörden des Bundes sollen ihre Akten elektronisch führen. Satz 1 gilt nicht für solche Behörden, bei denen das Führen elektronischer Akten bei langfristiger Betrachtung unwirtschaftlich ist“. Aus Art. 31 Abs. 5 des Gesetzes von 2013 ist die Frist zum 1.1.2020 zu entnehmen. Wenn das Gesetz eine „Soll“-Vorschrift formuliert, dann ergibt sich daraus kein freies Ermessen der Bundesregierung, ob sie bis zum 1.1.2020 die Akte einführen will oder nicht. Vielmehr bedeutet die Gesetzesformulierung „sollen“ nach allgemeiner Rechtsauffassung und langjähriger Rechtsprechung, dass die Bundesbehörden die eAkte einführen müssen, soweit nicht atypische Umstände die Befugnis zu einem abweichenden Handeln erlauben. Von „atypischen Umständen“ wird man aber sicherlich nicht sprechen können, wenn die Hälfte der Bundesbehörden eine Einführung wegen schlichter jahrelanger Untätigkeit zum 1.1.2020 nicht schaffen. Auch das Fehlen von Haushaltsmitteln bietet keine Rechtfertigung für die Missachtung von Fristen, es sei denn, es wäre ein expliziter Haushaltsvorbehalt im Gesetz verankert.
Neben der eAkte ist die Einführung weiterer digitaler Instrumente mit Fristen unterlegt: So schreibt § 2 Abs. 3 EGovG vor: „Jede Behörde des Bundes ist verpflichtet, in Verwaltungsverfahren, in denen sie die Identität einer Person auf Grund einer Rechtsvorschrift festzustellen hat oder aus anderen Gründen eine Identifizierung für notwendig erachtet, einen elektronischen Identitätsnachweis nach § 18 des Personalausweisgesetzes oder nach § 78 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes anzubieten.“ Gemäß Art. 31 Abs. 3 Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25.7.2013 trat diese Bestimmung zum 1.1. 2015 in Kraft. Leider schaffte es aber die Bundesverwaltung nicht, die Voraussetzungen für eine pünktliche Umsetzung des § 2 Abs. 3 zu sorgen. Die Bundesregierung verstößt also (mehrfach) gegen ein Gesetz, das sie selbst so vorgeschlagen hatte. Wie will man dann vom Bürger Rechtstreue erwarten, wenn der Staat sich selbst nicht an die Gesetze hält?
Problematisch ist es immer, wenn der Gesetzgeber der Verwaltung Verpflichtungen auferlegt, für den Fall der Verletzung der Verpflichtung keinerlei Sanktionen vorsieht. So verhält es sich mit der Anordnung, in den Bundesbehörden bis zum 1.1.2020 die Papierakten durch die elektronischen Akten abzulösen. Weder hat der Bundesgesetzgeber diese Regelung mit einem Anspruch des Bürgers auf vollständig elektronische Bearbeitung seines Anliegens verknüpft noch dem Verwaltungsmitarbeiter ein (einklagbares) Recht auf ein vollständiges digitales Arbeitsinstrument gegeben. Der Gesetzgeber geht offenbar – aber irrtümlich – davon aus, dass die Exekutive sich auch ohne entsprechende subjektive Rechte von betroffenen Nutznießern der elektronischen Akte rechtstreu verhalten und die ihr auferlegte Verpflichtung einhalten wird.
Nicht nur der Bund, auch die Länder nehmen zuweilen gesetzlich verankerte Fristen nicht so ernst, wie es das Rechtstreueprinzip von ihnen verlangt. Mittlerweile haben fast alles Länder ihre Verwaltungen auf die Einführung der eAkte zu bestimmten Fristen verpflichtet. Dennoch ist zu bezweifeln, ob diese Fristen auch einzuhalten sind.
Es liegt daher nahe, die Exekutive – ähnlich wie den sich nicht rechtstreu verhaltenden Bürger – durch Sanktionen im Falle des Gesetzesverstoßes zu rechtstreuem Verhalten zu veranlassen. Dies gilt umso mehr, als die Einhaltung von immer mehr eGovernment-Fristen in Frage steht.
§ 1 Abs. 1 OZG normiert: „Bund und Länder sind verpflichtet, bis spätestens zum Ablauf des fünften auf die Verkündung dieses Gesetzes folgenden Kalenderjahres ihre Verwaltungsleistungen auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten“. Wäre mit diesem Gesetz ein Anspruch des Bürgers verbunden, ab 1.1.2023 ausschließlich elektronisch zu kommunizieren, dann könnten Bürger einen Ersatz ihres quantifizierbaren Mehraufwands oder eines anderen Schadens geltend machen, wenn sie weiterhin auf den Papierweg verwiesen werden. Die Bundesregierung hat in der Begründung des Gesetzentwurfs versucht, einem solchen Recht entgegenzuwirken: „Die Verpflichtung der Behörden begründet keine subjektiv-öffentlichen Ansprüche Dritter“. Tatsächlich kommt es aber bei der Frage, ob der Bürger im Ernstfall Ansprüche geltend machen kann, nicht (ausschließlich) auf die Begründung des Gesetzestextes an. So ist es nicht ausgeschlossen, dass Gerichte aus dem Ziel des OZG, die Zugänglichkeit der Verwaltungsleistungen für den Nutzer zu verbessern und Kosteneinsparungen für Bürger und Unternehmen zu ermöglichen, doch ein subjektives Recht herauslesen.
Will der Gesetzgeber künftig eine striktere Umsetzung seiner Vorgaben durch die Exekutive sicherstellen, so sollte er klarer subjektiv-öffentliche Rechte von Bürgern als Spiegelbild der Verwaltungsverpflichtungen formulieren. Drohen einer Verwaltung Schadensersatzklagen der in ihren Rechten betroffenen Bürger, wird sie sich intensiver um eine pünktliche Einhaltung der gesetzlichen Fristen bemühen.
Fazit
Im Bund-Länder-Verhältnis sieht bereits Art. 37 Grundgesetz vor: „Wenn ein Land die ihm nach dem Grundgesetze oder einem anderen Bundesgesetze obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Maßnahmen treffen, um das Land im Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten“. Auch wenn eine Verpflichtung der Länder aus dem OZG theoretisch über den Bundeszwang durchgesetzt werden könnte, so hat man (wohl in der Vergangenheit aus politischen Gründen) auf den Einsatz dieses Instruments verzichtet. Im Übrigen fehlen solche Möglichkeiten zur Sanktionierung von Verfehlungen der Bundesverwaltung.
Verstoßen Mitgliedsstaaten gegen europarechtliche Verpflichtungen, steht der EU-Kommission das Instrument des förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens zur Verfügung, das in letzter Konsequenz zur gerichtlichen Verhängung finanzieller Sanktionen in Form eines unter Umständen hohen Pauschalbetrags und/oder eines täglich zu zahlenden Betrags führen kann.
Vorstellbar wäre, einen ähnlichen Mechanismus auch in Deutschland zulasten säumiger Bundesverwaltungen einzuführen, sollte die Tendenz zunehmen, gesetzliche Fristen zu missachten. Hier wären allerdings zuvor viele Fragen zu klären: Wer sollte die Aufsicht über die Einhaltung der Verpflichtungen führen und das Verletzungsverfahren einleiten? An wen wären die finanziellen Sanktionen zu zahlen? Wie wäre der Umstand zu werten, dass letztlich der Steuerzahler auch für die Strafzahlungen aufzukommen hätte? Wie würden die Verwaltungen auf die Androhung von Sanktionen reagieren? Einfach umsetzbare Antworten und Lösungen aber fehlen. Deshalb bleibt die Hoffnung, dass politischer Druck die Verwaltung zu rechtstreuem Verhalten bewegt.
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