Pilotprojekt Abwasserwerk Bergisch Gladbach Digitalisierung unter Tage mit „intelligenter“ Kanalisation
Städte und Kommunen mit Bevölkerungswachstum kennen das Problem: Die vorhandenen Pumpwerke stoßen an ihre Grenzen. Dabei spielen auch ungeklärte Fremdwassereinleitungen eine große Rolle.
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Eine solche Situation gab es wiederholt im Bergisch Gladbacher Stadtteil Herkenrath. Immer wieder kam es zu Überlastungen der Schmutzwasserpumpstation (Siefer Hof), welche rein rechnerisch nicht sein durften. Im Durchschnitt floss sieben Mal so viel Wasser in die Pumpstation, wie es sein sollte; bei großen Regenereignissen schoss die Abwassermenge sogar bis zum Elffachen hoch. Die Überprüfung der Entwässerungsanlagen, der Pläne und Berechnungen der Gutachter ergab allerdings keine Hinweise, wieso die berechneten Abwassermengen so massiv und um ein Vielfaches Überschritten wurden. Das städtische Abwasserwerk sah sich gezwungen zu handeln.
Unbekannte Größe: Fremdwassereinleitungen
Das einfachste Mittel, um der festgestellten Mengen Herr zu werden, wäre ein Ausbau beziehungsweise Neubau der für das Gebiet zuständigen Pumpstation und Ableitungskanäle gewesen. „Allein der Bau wurde mit circa zwei Millionen Euro veranschlagt, von den Folgekosten für die Abwasserreinigung wegen höherer Volumina und den entsprechend höheren Abwassergebühren ganz zu schweigen“, beschreibt Marin Wagner, Leiter des städtischen Abwasserwerks, das Dilemma. Angesichts der hohen Pumpenlaufzeiten wurde vermutet, dass vor allem Fremdwassereinleitungen die Ursache des Problems waren. Versuche, die Einlaufstellen mit Kamerarobotern, über Färbungen oder Nebel zu orten, waren allerdings nicht erfolgreich und recht aufwändig. Ihr größter Schwachpunkt: Alle diese Methoden erstellen nur Momentaufnahmen. Um zweifelsfrei die Gründe für die Überlastungen festzustellen, wäre bei den „klassischen“ Methoden ein langfristiger und damit teurer Personaleinsatz über mehrere Wochen, wenn nicht Monate notwendig. „Wir hätten unseren Kamerawagen inklusive Personal ja dort auf der Straße über Tage sozusagen parken müssen“, so Wagner.
Gesucht war ein Verfahren, um die Hypothese mit angemessenem Aufwand zu verifizieren und die Verursacher zu finden. Dank der in Bergisch Gladbach gültigen Abwassersatzung war auch die juristische Voraussetzung gegeben, um sozusagen „detektivisch“ vorzugehen.
Die technische Frage lautete: Wie kann die „Detektivlupe“ hier aussehen? Nicht mit „Kommissar Zufall“, sondern dank guter Recherche in der Verwaltung wurde eine Lösung vor Ort gefunden: die Firma OSSCAD. Das Unternehmen (der Name ist eine Abkürzung für Optical Sensor Systems – Consulting & Development) ist auf Messungen per Glasfaserkabel spezialisiert, mit denen zum Beispiel in der Erde verlegte Hochspannungskabel überwacht werden können. Nach Klärung der Einsetzbarkeit für den Abwasserbereich und einem Vergabeverfahren wurde OSSCAD mit der Durchführung einer Messung als Pilotprojekt für Bergisch Gladbach beauftragt. Die OSSCAD-Ingenieure entwickelten genau wie die Mitarbeiter des Abwasserwerks den „detektivischen Spürsinn“ bei der Interpretation der Daten. Dabei wurden die verschiedenen Ausweitungsmöglichkeiten und ihre graphischen Darstellungen sehr intensiv, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und fachlicher Expertise diskutiert. „Für beide Partner ein hochinteressantes Pilotprojekt mit einer beeindruckenden Lernkurve“, lobt Martin Wagner das Projektteam.
Technisch basiert die Lösung auf der Temperaturdifferenzmessungen mittels Glasfaserkabel, einem Spezialgebiet aus der Geophysik. Diese Technologie lässt sich auch für Kanalisationssysteme nutzen und kam im Problemgebiet zum Einsatz: Ein Glasfaserkabel mit speziellem Aufbau, welches robust und wasserdicht ist. Mit einem Querschnitt von lediglich 6 x 3 Millimeter kann das Kabel in den Kanalisationsrohren montiert werden, ohne den Durchfluss zu verändern und damit die Messergebnisse zu verfälschen. Gemessen wurde die Temperatur des Abwassers. Die hochfeine Sensorik erfasst Temperaturunterschiede bis zu 0,1 Grad Kelvin. Dabei wird die sogenannte Raman-Streuung genutzt, für deren Entdeckung der Physiker C.V. Raman 1930 den Nobelpreis bekam. Alle 10 Zentimeter und alle 10 Sekunden wurde auf einer Kanalstrecke von insgesamt 600 Metern mit circa 40 Hausanschlüssen gemessen – eine beachtliche Menge von Daten. Unter Einsatz eines optischen Radars konnten dabei kleinste Veränderungen erkannt und lokalisiert werden. Im Testraum von sechs Wochen kamen 90 Millionen Ergebnisse zusammen, insgesamt 30 Gigabyte. Ein Datenlogger, der im Pumpenhaus platziert und mit Strom versorgt wurde, speicherte die Masse an Informationen. Die früher notwendige Handarbeit wurde zur Rechnerleistung.
Erste Pilotphase zu trocken
Die Montage des Glasfaserkabels war recht simpel. Ein gängiges Kanalinspektionsfahrzeug, gesteuert per Kamera, zog das Kabel in die Rohre ein und die Befestigung an der Kanalsohle erfolgte durch Mitarbeiter des Abwasserwerks. Für die gesamte Teststrecke von etwa 600 Metern waren dafür lediglich drei Stunden nötig. Der erste Testbetrieb ergab allerdings keine verwertbaren Ergebnisse – es war zu heiß und zu trocken im Sommer 2018! Ohne Niederschlag kam es auch nicht zu den Fremdwassereinleitungen, ohne Daten keine Lokalisierung. Deshalb wurden im Herbst zwei weitere Wochen pilotiert, und das Wetter spielte mit.
Interpretation ermöglicht Lokalisierung
Die 90 Millionen Messdaten wurden in Graphen umgewandelt und dann ausgewertet, eingeteilt nach eindeutiger, wahrscheinlicher und einmaliger Einleitung. Die Auswertung erfolgt in Korrelation mit den Wetterereignissen und Niederschlagsmengen. Alle Temperaturausschläge nach oben oder unten deuten auf Veränderungen des Abwassers hin und sind Indikatoren für Einleitungen. Damit ließ sich sogar genau identifizieren, wann und wie lange Wasser in die Kanalisation eingeleitet wurde.
Ein einfaches Beispiel: Das morgendliche Duschen macht sich mit der Erhöhung der Wassertemperatur um wenige Grade auch noch in der Kanalisation bemerkbar. Drainagen wiederum geben Wasser nach einem Regen langsamer ab, Pumpenstöße sind sofort erkennbar. Da die Einleitungsstellen bis auf 10 Zentimeter genau zu lokalisieren waren, standen auch die Verursacher schnell fest. Schon im ersten Testbetrieb wurde eine Trefferquote der Fehleinleitungen von 95 Prozent erzielt (die fehlenden 5 % verursachte ein fälschlich als versiegelt eingetragener Kanalschacht). Generell waren alle Anwohner kooperativ und sehr einsichtig. Für das Abwasserwerk Bergisch Gladbach war das Pilotprojekt so überzeugend, dass es die Messkabel direkt gekauft hat. Bei fachgerechtem Einsatz gibt es nahezu keinen Verschleiß, Schnittstellen lassen sich sogar reparieren.
Zukunftsfähiges Konzept
Das Projekt war sehr erfolgreich in mehreren Hinsichten. Zunächst war das untersuchte Gebiet überschaubar und gleichermaßen geeignet groß, um verschiedene Ursachen und Zusammenhänge zu lernen. Der Aufwand und damit die Kosten, das Kontrollsystem zu installieren und zu betreiben, sind sehr überschaubar. Ab etwa 30 bis 40 Häuser (Anschlussstellen) ist das Kontrollsystem schon rentabel. Die gesamte Infrastruktur lässt sich einfach aufsetzen: Die Glasfaser-Messkabel sind schnell montiert, der Anschluss des Datenloggers kann im vorhandenen Pumpenhaus, sicher und mit Strom versorgt, erfolgen. Das System ist leicht ausbaufähig. Der Datenlogger kann mit einem Gateway versehen werden, um die Daten direkt in ein Netzwerk zu routen. So lässt sich auch per Ferndiagnose alles im Blick behalten.
Durch die Zusammenführung der Ergebnisse – Stichwort Big Data – können neue Erkenntnisse über die Nutzung und Auslastung von Pumpstationen gewonnen werden, mit denen sich weitere Perspektiven und Optimierungen ergeben.
Auch andere Anwendungsbeispiele liegen nahe: Einleitung von Gewerbebetrieben können so dauerhaft kontrolliert oder Deiche auf Durchfluss und Stabilität überwacht werden. Mittels Glasfaser lassen sich Druck und Schalle ebenso messen wie jetzt Temperatur. Geometrie, Brandschutz, Sicherheitsprüfungen auf Deponien – die Einsatzmöglichkeiten sind sehr zahlreich.
Finanzierung
Nicht nur Martin Wagner, auch die Finanzabteilungen der Stadt zeigten sich mit dem Ergebnis sehr zufrieden: Statt zwei Millionen Euro plus hoher Folgekosten wurden weniger als 25.000 Euro für die Hardware und die Ingenieurleistungen investiert. So können größere Kanalisationsnetzwerke sehr einfach, schnell und wirtschaftlich untersucht werden.
*Der Autor, Martin Wagner, ist Leiter des Abwasserwerks Bergisch Gladbach.
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