Eine Cloud-Infrastruktur für Europa Mit Gaia-X zur europäischen Datenautonomie

Autor / Redakteur: lic.rer.publ. Ariane Rüdiger / Nico Litzel

Europa hängt bei der Entwicklung digitaler Dienste den USA, aber auch einzelnen europäischen Ländern wie Estland, weit hinterher. Das Projekt Gaia-X, das zum Digitalgipfel 2019 offiziell angekündigt wurde, soll das ändern. Sein Ziel: Digitale Entwicklung ohne Preisgabe europäischer Werte und Rechtsvorstellungen.

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Eine Financial Big Data Cloud (FBDC) könnte der hiesigen Finanzwirtschaft neue und rechtskonforme Möglichkeiten bieten, Daten zu sammeln, zu teilen und zur Generierung neuer Geschäftsmodelle zu verwenden.
Eine Financial Big Data Cloud (FBDC) könnte der hiesigen Finanzwirtschaft neue und rechtskonforme Möglichkeiten bieten, Daten zu sammeln, zu teilen und zur Generierung neuer Geschäftsmodelle zu verwenden.
(Bild: BMWI, Hessisches Wirtschaftsministerium, Deutsche Börse, Deutsche Bundesbank, TechQuartier)

Gaia-X heißt der Masterplan für die Entwicklung einer vernetzten offenen Dateninfrastruktur auf Basis europäischer Werte, den die Bundesregierung auf dem Digitalgipfel 2019 vorstellte. Federführend waren daran zwei Bundesministerien beteiligt: für Wirtschaft und Energie und sowie für Bildung und Forschung. Das Wirtschaftsministerium fungiert als Herausgeber.

Ein im Internet veröffentlichte Paper zum Thema, rund 50 Seiten lang, umreißt den großen Plan. Demnach soll Gaia-X ein technisch-wirtschaftliches Konzept zugrunde liegen, das Anwender und Anbieter zusammenbringt. Das Projekt soll einen soliden Rahmen für eine vernetzte, offene Dateninfrastruktur auf Basis europäischer Werte bilden.

Datenschutz und Datensouveränität ganz oben in der Prioritätenliste

Wichtige grundlegende Merkmale der geplanten europaweit homogenen Infrastruktur sind die Einhaltung des Datenschutzes, Offenheit und Transparenz, Vertrauen und sichere Authentisierungsmechanismen, Datensouveränität und Selbstbestimmung, freier Marktzugang, Modularität, Interoperabilität und Nutzerfreundlichkeit.

Die Datensouveränität ist in diesem Kontext besonders wichtig. Dass sie sich heute nur unvollkommen garantieren lässt, hält nämlich viele Firmen, insbesondere KMUs, davon ab, stärker ins Cloud-Computing und insbesondere in die Entwicklung neuer, daten- und KI-getriebener Geschäftsmodelle einzusteigen. Genau hier wird aber die Wertschöpfung der Zukunft vermutet.

Drei-Ebenen-Architektur

Die Infrastruktur wird drei funktionale Ebenen haben: erstens Hardware und Netze, zweitens Datenhaltung, Betriebssysteme und Datenbanken sowie Datenverarbeitung und -nutzung. Dritte Ebene sind B2B-Plattformen. Bei der Datenverarbeitung und der Nutzung von Services sollen Anwender die freie Wahl behalten und nicht mehr oder weniger zwanghaft an einen Anbieter gebunden werden.

Das Projekt zielt auf Anwendungen vor allem aus den Bereichen Industrie 4.0, Zulieferernetze, Finanz- und Gesundheitswesen, aber auch öffentliche Verwaltung. Besonders die in Deutschlands Wirtschaft so wichtigen Mittelständler sollen durch neue, europäische Angebote und dadurch steigendes Vertrauen in die Garantie ihrer Datensouveränität gewonnen werden.

Der Mittelstand soll zur Cloud-Service-Nutzung motiviert werden

Das könne KMUs, so das Papier, motivieren, öfter als bisher an sich mehrwertige Public-Cloud-Services zu nutzen. Dafür ist die freie Wahl des Datenspeicherplatzes bei gleichzeitiger selektiver Freigabe der Daten zur Nutzung durch Dritte essentiell. Gibt der Mittelstand seine Cloud-Skepsis auf und teilt seine Daten, sieht das Papier hier hohes Potential für die Entwicklung neuartiger Geschäftsmodelle.

Redundante Mehrknoten-Architektur

Geplant ist eine redundante Mehrknoten-Architektur. Ihre Grundeinheit sind zur Referenzarchitektur kompatible Knoten, die einen eindeutigen Namen haben und eine Selbstbeschreibung ihrer Fähigkeiten und Funktionen besitzen.

Bestehende oder in Entwicklung befindliche Referenzarchitekturen wie die der IDSA (International Data Spaces Association) sollen einbezogen werden. Alle Knoten, Anbieter und Services sollen eine Zertifizierung beispielsweise hinsichtlich ihrer Sicherheit, des angebotenen Service Level etc. durchlaufen.

Dazu kommt ein Software Repository. In ihm werden Komponenten gespeichert, die allen Anbietern in der Gaia-X-Infrastruktur zur Verfügung stehen. Diese Komponenten sollen als FaaS (Function as a Service) realisiert werden und in einem Zentralregister gespeichert werden. Die Dienste und Angebote der einzelnen Anbieter werden sich direkt oder über Plattformen beziehen lassen.

Steuerorganisation soll schon im Frühjahr gegründet werden

Vorhandene Netze und Clouds können in Gaia-X eingehen, sofern sie alle nötigen Merkmale aufweisen und dementsprechend zertifiziert sind. Die vernetzte Infrastruktur soll dezentral und mittelständisch strukturiert sein, Cloud-Edge-Strukturen unterstützten und von einer zentralen Organisation gesteuert werden. Diese soll die Referenzarchitektur Zertifizierungen und Gütesiegel entwickeln.

Die Steuerungsorganisation von Gaia-X soll schon im ersten Quartal 2020 gegründet werden und Mitglieder aus möglichst vielen europäischen Ländern integrieren. Als Rechtsform wird die europäische Genossenschaft (Societas Cooperativa Europaea, SCE) angepeilt. Zur Umsetzung ihrer Aufgaben darf die Organisation Tochterunternehmen gründen.

Drei Arbeitsgruppen in Zentralorganisation

Innerhalb der Organisation kümmern sich drei Arbeitsgruppen um die Themen Anwendung, technische Grundlagen und Kommunikation mit Partnern respektive der EU. Schon im zweiten Quartal 2020 soll ein PoC der Referenzarchitektur vorliegen, den Beginn des Livebetriebs plant das Papier für Ende 2020.

Technologisch federführend ist das Büro des CTO, das wiederum das Technologie-Board mit sechs Arbeitsgruppen steuert:

  • 1. Software und Architektur,
  • 2. Betriebstechnik,
  • 3. Storage, Compute und Netzwerk,
  • 4. Zertifizierung und Lizenzierung,
  • 5. Product Board,
  • 6. Testimplementierung.

Der in dem Papier dargestellte Lösungsansatz soll für technische und semantische Interoperabilität in der gesamten Infrastruktur und allen damit verarbeiteten Daten oder Diensten sorgen. Außerdem soll die Cloud-to-Edge-Kommunikation vereinfacht werden und auch HPC auf Gaia-X möglich sein.

Chancen für Edge-Cloud-Anbieter

Soweit also die Pläne, zu deren Nutznießern neben den potenziellen Anwendern im Erfolgsfall die in Hessen beheimatete Friedhelm Loh Group gehören dürfte. Drei ihrer Tochterfirmen, nämlich German Edge Cloud, die kürzlich von der Loh Group aufgekaufte, auf IoT-Softwareservices spezialisierte IoTOS, Rittal sowie Bosch Connected Industry als externer Partner haben 2019 die Oncite-Edge-Cloud vorgestellt.

Das ist eine vom Anwender anmietbare komplette Edge-Cloud-Implementierung, die vom Dienstleister betrieben wird. Dort können Anwenderfirmen, etwa Produktionsstandorte, ihre Daten vor Ort halten und beispielsweise mit KI-gestützten Algorithmen auswerten. Gleichzeitig können sie auf die Dienste zentraler Public Clouds zugreifen, ohne ihre Datensouveränität einzubüßen.

Soweit die großen Pläne – wie die Umsetzung gelingt, bleibt abzuwarten. Besonders hoch sollte man Hoffnungen und Erwartungen angesichts der notorischen Schwierigkeiten ähnlicher Mammutprojekte wie Gesundheitsakte oder der Sanierung der IT von Bundeswehr und Bundesregierung aber nicht schrauben. Und ob Gaia-X tatsächlich paneuropäisch implementiert wird, haben die übrigen europäischen Länder selbstverständlich mit zu entscheiden.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf unserem Schwesterportal Cloudcomputing Insider.

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