Barrierefreiheit Gesetzliche Regelungen für barrierefreie IT

Von André Meixner*

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Knapp zehn Prozent der deutschen Bevölkerung gelten als schwerbehindert. Dies umfasst noch nicht die Menschen mit leichter Sehbeeinträchtigung oder Hörschädigung. Entsprechend höher dürfte die Gesamtzahl derjenigen sein, die aufgrund von Behinderungen oder Erkrankungen im Alter keinen Zugang zu Webseiten oder ­mobilen Anwendungen haben. Die neue europäische Richtlinie für barrierefreie Webseiten, die seit dem 23. September 2019 gilt, soll Abhilfe schaffen.

Die Bundesregierung ist verpflichtet, die Umsetzung der Richtlinie zu kontrollieren und regelmäßig darüber zu berichten
Die Bundesregierung ist verpflichtet, die Umsetzung der Richtlinie zu kontrollieren und regelmäßig darüber zu berichten
(© momius - stock.adobe.com)

In Deutschland regelt die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung des Bundes (BITV 2.0), welche Voraussetzungen Institutionen für barrierefreie Internetanwendungen erfüllen müssen. Sie basiert auf den weltweit gültigen Web Content Accessibility Guidelines.

Je nachdem, welche motorischen, sensorischen oder kognitiven Einschränkungen abgedeckt werden sollen und wie stark diese ausgeprägt sind, müssen Einrichtungen unterschiedliche integrative ­Maßnahmen treffen. So sind Sehbeeinträchtigte, die fern- oder weitsichtig sind oder eine Farbfehlsichtigkeit haben, in den Software-Anforderungen von Blinden zu unterscheiden. Auch bei Hörschädigungen muss zwischen leichten Einschränkungen und Taubheit in der jeweilig notwendigen Maßnahme unterschieden werden.

Die Richtlinie
BITV 2.0

Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) ergänzt das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und soll gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen die Informationen aller öffentlichen Internet-Auftritte und -angebote der Einrichtungen der Bundesverwaltung uneingeschränkt nutzen können. Auch elektronisch unterstützte Verwaltungsabläufe mit und innerhalb der Verwaltung sind bis 2021 umfassend barrierefrei zu gestalten. Dies betrifft zum Beispiel Verfahren zur elektronischen Aktenführung und zur elektronischen Vorgangsbearbeitung.

Die Verordnung trat 2002 erstmals in Kraft und wurde 2011 neu verfasst. 2019 wurde die BITV erneut geändert, um die EU-Richtlinie 2016/2102 umzusetzen. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, den barrierefreien Zugang zu Web­sites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen sicherzustellen.

Auf Länder- und kommunaler Ebene greifen Landesgleichstellungsgesetze oder entsprechende Verordnungen, die größtenteils auf die BITV verweisen. Privatwirtschaftlich betriebene Internetangebote fallen ebenfalls nicht direkt in den Geltungsbereich der BITV. Hier greifen die Pflichten des Arbeitgebers zur Bereitstellung barrierefreier IT-Arbeitsplätze nach Sozialgesetzbuch (SGB IX §81), wobei die BITV meist als Testgrundlage hinzugezogen wird.

EU-Richtlinie

Seit September 2019 gilt ergänzend zur BITV 2.0 die europäische Richtlinie EU-2016/2102, die eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen erfordert. Sie soll Lücken in den bestehenden Vorschriften zu barrierefreier Technologie schließen und einen europaweit einheitlichen Standard schaffen. Die Richtlinie der Europäischen Union betrifft derzeit öffentliche Internetanwendungen, interne Anwendungen (Intranet), Verwaltungsanwendungen und Dokumente öffentlicher Stellen – also Stellen, die dem europäischen Recht nach der öffentlichen Auftragsvergabe unterliegen. Dazu zählen der Bund, die Länder und die Gemeinden sowie juristische Personen des öffentlichen und privaten Rechts, sofern diese im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht-gewerblicher Art wahrnehmen.

Ein solches Allgemeininteresse liegt zum Beispiel bei Sozialversicherungsträgern, Krankenkassen und Kommunen, aber auch bei Kultureinrichtungen, vor. Für Schulen, Kindergärten und Krippen können die jeweiligen Länder Ausnahmen treffen. Allerdings müssen ihre wesentlichen Verwaltungsfunktionen ebenfalls den Barrierefreiheitsanforderungen der Richtlinie entsprechen.

Von der Richtlinie betroffen sind nicht alle Internetangebote, sondern derzeit nur Webseiten und mobile Anwendungen. Für mobile Anwendungen gilt die Richtlinie nur dann, wenn sie über die interne Nutzung hinausgeht. Bei Webseiten gibt es keine Einschränkungen.

Neue Pflichten

Zusätzlich sind öffentliche Einrichtungen seit dem 23. September 2019 dazu verpflichtet, auf ihrer Startseite eine Erklärung darüber bereitzustellen, inwiefern ihre Webseiten und mobilen Anwendungen der Richtlinie entsprechen. Ein Feedback-Mechanismus auf der Webseite gibt Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, Mängel an der Barrierefreiheit zu melden. Auf diese Weise können die Betreiber der Webseiten und Apps ihr Angebot fortlaufend verbessern und Informationen sowie Dateien, die noch nicht barrierefrei sind, entsprechend anpassen.

Die Bundesregierung ist dazu verpflichtet, die Umsetzung der Richtlinie zu kontrollieren und in regelmäßigen Abständen über die Fortschritte zu berichten. Zusätzlich hat die Regierung ein angemessenes und wirksames Durchsetzungsverfahren zu schaffen, beispielsweise in Form einer Ombudsstelle. Die letzten beiden Punkte gelten für die betroffenen öffentlichen Stellen nur indirekt, doch sie sollten sich darauf einstellen, dass sie kontrolliert und bei Nichterfüllung der Vorgaben zu Zwangsmaßnahmen verpflichtet werden können.

Angebote testen

Um zu überprüfen, wo weitere barrierefreie Angebote nötig sind, empfiehlt sich ein Überwachungsaudit. Dieses prüft sämtliche aktiven Anwendungen auf unterschiedliche Formen der Barrierefreiheit. Es kann durchaus sein, dass eine Website beispielsweise für eine hörgeschädigte Person bereits barrierefrei verfügbar, aber für eine blinde Person noch nicht zugänglich ist. Dann muss die Institution noch andere, zusätzliche Maßnahmen ergreifen. Ein Überwachungsaudit testet jedes Detail eines Services, so dass jede mögliche Einschränkung ausgeglichen werden kann.

Bei Tests simulieren automatisierte Tools mithilfe beeinträchtigungsspezifischer, assistiver Technik fünf verschiedene Nutzungsrollen: blinde, sehbeeinträchtigte, motorisch beeinträchtigte, hörgeschädigte und kognitiv beeinträchtigte Personen. Geprüft werden die Anwendungen dann auf Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Da es auch nicht-automatisierbare Anforderungen gibt, insbesondere bei der Bedienbarkeit und Verständlichkeit, gehört zu einem solchen Test auch immer eine manuelle Überprüfung durch entsprechende Expertinnen und Experten.

Erst nach einer vollständigen Überprüfung der Services ist eine Gesamtbewertung der Lage möglich. Dazu gehört eine dezidierte Auflistung aller möglichen Nutzungsgruppen und ihrer User Experience. Anschließend erst kann es in die Behebung der Fehler gehen, da viele der Mängel miteinander in Verbindung stehen und eine Teilbetrachtung daher nicht funktioniert.

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Von Beginn an einplanen

Um unnötigen Mehraufwand und -kosten zu vermeiden, ist es am sinnvollsten, wenn Unternehmen und Einrichtungen das Thema Barrierefreiheit von Anfang an mitdenken und in die Anforderungsanalyse für die Implementierung neuer Technologie aufnehmen. Dazu ein paar Zahlen, um dies zu verdeutlichen:

  • Der Mehraufwand für Barrierefreiheit von digitalen Anwendungen liegt bei durchschnittlicher Projektgröße etwa bei einem Prozent des Projektvolumens.
  • Sollte innerhalb des eigenen Teams kein ausreichendes Wissen vorhanden sein, sollten Projektverantwortliche in regelmäßigen Abständen Barrierefreiheitstests ansetzen, um ein frühzeitiges Erkennen und Lösen von Fehlern durch externe Architekten, Designer und Entwickler garantieren zu können. Der Mehraufwand liegt hier bei circa zwei bis fünf Prozent des Projektvolumens.
  • Kommt es erst bei der Abnahme zu einer Barrierefreiheitsbetrachtung, können erhebliche Mehraufwände entstehen, die das gesamte Projekt riskieren können. Wenn das eingesetzte Framework von Anfang an falsch aufgebaut ist, können aufwändige Korrekturen im Nachgang bei 100 Prozent oder mehr des ursprünglichen Projektbudgets ­liegen. Nach Erfahrungen von T-Systems Multimedia Solutions (TSMMS) werden hier durchschnittlich 20 bis 30 schwerwiegende Probleme beim barrierefreien Zugang festgestellt. Davon sind viele derart massiv, dass beeinträchtigte Personen den Arbeitsablauf innerhalb der Anwendung nicht fortsetzen können.

Der Autor: André Meixner
Der Autor: André Meixner
(© T-Systems MMS)

Weitere Statistiken von T-Systems Multimedia Solutions, die auf über tausend Tests beruhen, haben gezeigt, dass 93 Prozent aller getesteten Anwendungen mehrere ­Probleme hinsichtlich der Barriere­freiheit aufweisen. Ein Zugänglichkeitsproblem kann dabei von geringen Einschränkungen bis hin zu einer kompletten Zugangs­blockade reichen.

Neben der Verletzung geltender Vorschriften sollten sich alle Organisationen im Klaren darüber sein, dass unzugängliche Onlineangebote ganze Bevölkerungsgruppen von der Teilhabe ausschließen. Neben dem sozial-gesellschaftlichen Ausschluss, bedeutet dies im nächsten Schritt auch eine verloren gegangene Zielgruppe.

Wenn Unternehmen Barrierefreiheit von Anfang an mitdenken, entfällt unnötiger Support und es wird Platz für den Ausbau anderer Kompetenzbereiche geschaffen. Von Barrierefreiheit profitieren also nicht nur diejenigen, die auf sie ­angewiesen sind.

*Der Autor: André Meixner, Leiter User Experience & Barrierefreiheit bei T-Systems Multimedia Solutions

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