EU-Bürgerräte Impulsgeber für die Politik
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Bürgerräte kommen weltweit zum Einsatz, um Demokratien zu stärken und zu modernisieren. Nun sollen sie auch der Demokratieverdrossenheit der EU-Bürger entgegenwirken. Wie ein entsprechendes Modell aussehen könnte.

Die Europäische Union sieht sich mit immer komplexeren politischen Herausforderungen konfrontiert – von der anhaltenden Pandemie über die Klimakrise hin zu geopolitischen Bedrohungen. Um effizient und flexibel agieren zu können, benötigt sie jedoch auch die Zustimmung der Bürger und Bürgerinnen.
Diesen reicht es mittlerweile allerdings nicht mehr, lediglich alle fünf Jahre bei der Wahl des Europäischen Parlaments eingebunden zu sein. Wie die Studie „Under Construction. Citizen Participation in the European Union“ zeigt, sind 78 Prozent der Befragten überzeugt, dass Bürger und Bürgerinnen mehr Mitspracherecht bei der EU-Politik haben sollten. Über die Hälfte (54 Prozent) ist zudem der Meinung, dass ihre Stimme in der EU nicht zählt. Europäische Bürgerinitiativen oder die Stellungnahme im Rahmen öffentlicher Konsultationen konnten die Erwartungen der Bürger bisher nicht erfüllen. Entsprechende Instrumente sind entweder zu unbekannt oder haben im Endeffekt zu wenig Einfluss auf die politischen Entscheidungen. Die Folge? Die Demokratieverdrossenheit nimmt zu.
Bürgerräte sollen hier Abhilfe schaffen und eine Brücke zwischen Bürgern und Politikern bauen. Bei der Konferenz über die Zukunft Europas wurde das Konzept bereits getestet. Nun will Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Rat dauerhaft etablieren.
Bertelsmann-Stiftung entwickelt Modell
„Es ist gut zu sehen, dass die Kommission beschlossen hat, Bürgerräte häufiger zu nutzen – insbesondere bei wichtigen Gesetzesvorschlägen“, so Dr. Dominik Hierlemann, Experte für Bürgerbeteiligung bei der Bertelsmann-Stiftung und Mitautor der oben genannten Studie. In ihrem neuen Bericht schlägt die Stiftung daher ein mit Demokratieexperten entwickeltes Modell für die Institutionalisierung von europäischen Bürgerräten vor: „Unser Modell ist bürgerzentriert. Es beschreibt, wie Europäische Bürgerräte direkt mit der Politikgestaltung der EU verbunden werden können. Wir haben sogar eine interinstitutionelle Vereinbarung entworfen, die die EU-Institutionen nur noch unterschreiben müssten“, erklärt Hierlemann. Die Vereinbarung legt sowohl die Rollen als auch die Verantwortlichkeiten der Beteiligten fest.
Konferenz zur Zukunft Europas
Bei der „Konferenz zur Zukunft Europas“ durften europäische Bürgerinnen und Bürger mit Experten und Abgeordnete darüber diskutieren, was sie politisch von der EU erwarten und welche Reformen notwendig sind, um die EU demokratischer, bürgernäher und effizienter zu gestalten. Dabei entstand ein 53-seitiges Papier mit Empfehlungen: Demnach legen die Beteiligten auch neben der regelmäßigen Einberufung von Bürgerräten Wert auf die Beteiligung und Einbindung der Bürger in die EU-Politik. Geht es nach der Zukunftskonferenz, soll es „in Ausnahmefällen“ sogar möglich sein, EU-weite Volksabstimmungen einzuleiten, wenn der Sachverhalt „für alle europäischen Bürger besonders wichtig“ ist. Zudem schlagen die Beteiligten vor, den Online- und Offline-Austausch zwischen den EU-Institutionen und den Bürgern durch verschiedene Instrumente weiter zu verstärken. Für die Online-Beteiligung empfehlen die Konferenz-Teilnehmer beispielsweise den Aufbau einer benutzerfreundlichen digitalen Plattform, auf der Ideen ausgetauscht, Fragen an die Vertreter der EU-Institutionen gestellt und Meinungen zu EU-Angelegenheiten und Gesetzesvorschlägen geäußert werden können.
Gerade jüngere EU-Bürger sollen zudem durch die Einrichtung lokaler Jugendräte für die EU-Politik begeistert und einbezogen werden: „Im Rahmen der Gesetzgebung soll ein ‚Jugend-Check’ eingeführt werden, der sowohl eine Folgenabschätzung als auch ein Beratungsverfahren mit Vertretern junger Menschen umfasst, wenn davon ausgegangen wird, dass die Gesetzgebung Auswirkungen auf junge Menschen hat.“ Kinder zwischen 10 und 16 Jahren sollen hingegen durch Bürgerforen in Schulen beteiligt werden. Mit der Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern sind dabei große Hoffnungen verbunden: „Ich glaube, das könnte viel Einfluss haben. Wir haben uns gesagt, dass sich die Demokratie in Europa danach verändern wird. Wir werden nicht nur eine repräsentative Demokratie haben, die Bürger werden beteiligt werden“, so Aoife O'Leary, eine junge Konferenz-Teilnehmerin aus Irland.
Zwei Gremien – und der Zufall entscheidet
Dreh- und Angelpunkt des neuen Modells ist der Bürgerrat. Dieser ist ein ständiges Gremium, das sich aus 54 zufällig ausgewählten Bürgern zusammensetzt – zwei je Mitgliedsstaat. Die Bürger sollten bereits Erfahrungen mit Bürgerversammlungen mitbringen und werden für maximal zwei Jahre Teil des Rates, wobei das Modell der Bertelsmann-Stiftung vorsieht, dass die Hälfte der Mitglieder jedes Jahr getauscht wird, um „Kontinuität und den Austausch von Fachwissen zu gewährleisten“.
Unterstützung erhält der Rat von der jährlich einberufenen Bürgerversammlung, gebildet aus 204 Bürgern und Bürgerinnen, „die in Bezug auf Alter, Geschlecht, sozioökonomischen Hintergrund und andere relevante Merkmale repräsentativ“ sind – und natürlich auch zufällig ausgewählt wurden. Kleine Mitgliedsstaaten dürfen dabei vier, die mittelgroßen acht und die großen Mitgliedsstaaten zwölf Bürger und Bürgerinnen für die Versammlung stellen.
Von der Themenauswahl bis zur Umsetzung
Der Bürgerrat und die Bürgerversammlung lenken und überwachen den gesamten Prozess selbst. Dieser lässt sich in vier Phasen unterteilen: Zunächst können sowohl die EU-Institutionen (Top down) als auch die Bürger der EU (Bottom-up) Themen vorschlagen. Diese müssen nicht zwangsweise in den unmittelbaren Zuständigkeitsbereich der EU fallen, sondern können ein breites Spektrum politischer Fragen abdecken. Das Sekretariat sammelt und prüft die Themen und legt sie anschließend – systematisiert in einem Katalog – dem Bürgerrat vor, der dann wiederum bis zu zwei Themen auswählt, die auf bis zu zwei Bürgerversammlungen diskutiert werden sollen. Dabei soll der Rat vor allem darauf achten, dass die Themen die Bürger direkt betreffen und im besten Fall kontrovers sind. Die Auswahl legt er den EU-Institutionen vor und macht einen Vorschlag zur offiziellen Einberufung einer Bürgerversammlung.
Deren Hauptaufgaben ist es, die ausgewählten Themen zu erörtern und Empfehlungen auszusprechen. Dafür werden Arbeitsgruppen gebildet, die sich in fünf bis acht Sitzungen – vor Ort und digital – mit den Fragestellungen auseinandersetzen. Simultanübersetzungen helfen bei der Verständigung. Die Stiftung schlägt zudem vor, den Beratungsprozess von einer professionellen Moderationsfirma leiten zu lassen.
Die politischen Empfehlungen der Bürgerversammlung sollen entweder auf einem Konsens beruhen oder von mindestens 75 Prozent der Mitglieder der Versammlung unterstützt werden. Minderheitsmeinungen werden allerdings registriert und in den endgültigen Beschluss aufgenommen.
Das Sekretariat fasst die Empfehlungen anschließend in einem offiziellen Bericht zusammen, der, sobald er von der Bürgerversammlung gebilligt wurde, veröffentlicht und den EU-Institutionen vorgelegt wird. Zudem werden die Empfehlungen während der Rede zur Lage der EU vorgestellt.
Nun sind diese gefragt: Rechtlich verpflichtet, die Empfehlungen des Bürgerrats umzusetzen, sind die Institutionen natürlich nicht. „Allerdings müssten alle EU-Institutionen auf die Vorschläge antworten“, erklärt Hierlemann. „Insbesondere wären die Institutionen verpflichtet, einen gemeinsamen Aktionsplan zu entwickeln. Ein Bürgerbeirat wird diesen Prozess überwachen und kann Rückmeldungen geben. Dies würde für Transparenz und Rechenschaftspflicht sorgen.“
Chance jetzt wahrnehmen
„In vielen Teilen Europas haben Bürgerversammlungen bewiesen, dass sie das Gefühl der Verbundenheit der Bürger mit der Politik verbessern und zu besseren und allgemein akzeptierten politischen Lösungen beitragen“, heißt es in dem Papier der Bertelsmann-Stiftung. In Österreich und Deutschland seien beispielsweise auch regional erste Maßnahmen ergriffen worden, um Bürgerversammlungen dauerhaft zu etablieren. „Das Zeitfenster für die Institutionalisierung von europäischen Bürgerversammlungen ist jetzt offen und muss genutzt werden“, folgert die Stiftung. Dafür spräche auch die aktuelle politische Dynamik. So gäbe es etwa „einen Konsens darüber, dass die EU-Demokratie weiter verbessert und widerstandsfähiger gemacht werden muss“. Dabei spielten auch die jüngsten Erschütterungen, mit denen die Europäische Union konfrontiert worden sei – der Aufstieg des Rechtspopulismus in mehreren Mitgliedstaaten, die COVID-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine – eine Rolle. Entsprechende Ereignisse hätten die „Debatte über die demokratischen Qualitäten der EU und Maßnahmen zu ihrer Verbesserung“ neu belebt.
„Die Demokratie in der EU wird zunehmend durch Populisten, illiberale Tendenzen in einigen Mitgliedstaaten sowie nativistische und nationalistische Strömungen in Frage gestellt“, so die Studienautoren. Um angesichts dessen ihre Widerstandsfähigkeit zu bewahren, müsse sie gestärkt werden: „Unter den derzeitigen politischen Umständen ist es für die EU eher ein Muss als eine Wahl, ein demokratischer Innovator zu sein.“
Den Vorschlag der Bertelsmann Stiftung können Sie hier nochmal im Detail nachlesen (englisch):
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