Medica/Compamed 2017 Die Lage der Medtech-Branche: Handlungsempfehlungen für die Industrie
Die Trendthemen der Medizintechnik auf der Medica/Compamed 2017 sind klar definiert: MDR, 3D-Druck, Digitalisierung und Wearables. Auf der Vor-Pressekonferenz zur Messe erklärten Experten den gesamtwirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Rahmen.
Anbieter zum Thema

Die Medica deckt das gesamte Spektrum der medizinischen Versorgung in Krankenhäusern und Arztpraxen ab. Parallel dazu zeigen die Aussteller auf der Compamed Komponenten, Baugruppen und Dienstleistungen im Bereich der Zulieferindustrie. Von Wearables bis Knochen aus dem 3D-Drucker können Messebesucher dort die Zukunft der Medizintechnik heute schon begreifen. „Die Entwicklung der Compamed erfüllt uns mit besondere Freude“, erklärt Messe-Geschäftsführer Joachim Schäfer und räumt ein, dass diese Messe in der Zeit ihres 25-jährigen Bestehens häufig zu wenig Beachtung und Lob erfahren habe. Dabei schlummere das, was es zukünftig als Innovation auf der Medica zu sehen gäbe, schon heute als Perle auf der Compamed.
Abriss der Hallen 1 und 2, neuer Eingang Süd
Beide Messen finden in einer Zeit des Umbruchs und Umbaus statt. Ein Umbau, der auch das Düsseldorfer Messegelände betrifft. Der Eingang Süd wird komplett neu gestaltet, die Hallen 1 und 2 sind abgerissen und werden in diesem und dem kommenden Jahr durch Leichtbauhallen ersetzt. „Die Baustelle läuft gut“, erklärt dazu Schäfer. Das Anfang der 70er Jahre gebaute Gelände wird sukzessive erneuert. Besucher wie Aussteller sind davon nur wenig beeinträchtigt. „Alle Ausstelleranfragen konnten bedient werden, die Leichtbauhallen sind gut in Besucherfluss integriert“, erklärt Horst Giesen, Global Portfolio Director Healthcare & Medical Technologies der Messe Düsseldorf.
Kaum noch medizinische Produkte ohne digitale Schnittstellen
Giesen ist es auch, der das Thema Umbau zurück auf die Branche reflektiert. „Digitalisierung ist das große Thema. Sie ist heute in allen Segmenten vertreten.“ Es gäbe kaum noch medizinische Produkte ohne digitale Schnittstellen. Auch dabei spiele die Compamed in der „ersten Liga“ mit. Eine Einschätzung, die Dr. Thomas Dietrich, Geschäftsführer, IVAM – Fachverband für Mikrotechnik, teilt: „Medizinprodukte werden immer intelligenter. Aber Digitalisierung braucht auch Hardware, zum Beispiel Sensoren zur Aufnahme von Daten.“ Letztlich beflügelten Software und Hardware einander gegenseitig, sodass heute beispielsweise bei der intelligenten Nutzung in Wearables nicht nur die Belange der Diagnostik berücksichtigt seien, sondern auch die der Therapie.
Speziell Aussteller aus der Schweiz und aus Japan sind dieses Jahr hier neben der deutschen Fraktion auf der Compamed stark vertreten – beides Länder, die bekannt sind für Präzision und Zuverlässigkeit. Überhaupt spielt Internationalität auf der Medica/Compamed eine große Rolle. Zuletzt kamen rund 60 Prozent der Besucher aus dem Ausland. Insgesamt sind immer mehr weltweit aktive Firmen zu verzeichnen – trotz der damit zunehmenden regulatorischen Anforderungen.
Deutsche Medizintechnik ist ein Exportschlager
Noch wichtiger ist die Rolle des Auslands beim Absatz deutscher Medizintechnik. Rund zwei Drittel aller Produkte gehen in den Export. „Wichtigste Zielregion ist mit 40 Prozent die Europäische Union, erweitert um die Nicht-Mitglieder verbleiben sogar 50 Prozent in Europa. Auf Nordamerika und Asien entfallen je 20 Prozent“, erläutert Marcus Kuhlmann, Leiter des Fachverbandes Medizintechnik im Verband Spectaris, die wichtigsten Absatzmärkte. Spürbar nachgelassen haben infolge der Sanktionsmaßnahmen die Geschäfte mit Russland. Jedoch sei die Talsohle durchschritten, stellt Kuhlmann wieder leichtes Wachstum fest. Weiteres Wachstum sei auch in China spürbar, wo längst nicht mehr nur kopiert werde, sondern auch die Produktion eigener Qualitätsprodukte stark zunehme – sogar im Hightech-Bereich. Insgesamt dürfe die deutsche Medtech-Branche auf Sicht von fünf Jahren mit einem weiterhin mehr oder weniger konstanten Umsatzwachstum von 5 Prozent jährlich rechnen. „Das ist im Vergleich mit anderen Branchen ein Spitzenwert, der mehr Beachtung verdient. Die Branche darf nicht nur als Kostenfaktor gesehen werden, sondern sie muss auch als Wirtschaftsfaktor anerkannt werden“, fordert Kuhlmann. Er ist optimistisch, dass die Branche in diesem Jahr erstmals einen Umsatz von über 30 Mrd. Euro erzielt.
Deutsche Krankenhäuser hinken im internationalen Vergleich hinterher
Weniger erfreulich ist dagegen die Situation in deutschen Krankenhäusern: „Wir haben im internationalen Vergleich einen Rückstand von fünf Jahren, was Investitionen und Anwendungen neuer Technologien angeht“, mahnt Georg Baum als Tagungsleiter des 40. Deutschen Krankenhaustages auf der Medica 2017 und nennt in diesem Zusammenhang Österreich und die skandinavischen Länder vorbildhaft. Doch auch in Frankreich tut sich einiges. Über ein aktuelles Programm fließen dort 500 Mio. Euro in Investitionen für die Krankenhaus-IT.
Keine Angst vor Jamaica
Digitalisierung ist also nicht nur ein technologisches Thema, sondern auch eines der Politik. Hermann Gröhe habe hier insgesamt gute Arbeit geleistet, ist Baum mit dem Noch-Bundesgesundheitsminister zufrieden und kann sich gut damit anfreunden, sollte dieser im Amt bleiben. Er habe aber auch keine Angst vor Jamaika und sieht hier sowohl die Grünen als auch die Unionsparteien mit ihren Sozialthemen gut für dieses Amt positioniert. Laut nicht repräsentativer Umfrage von Devicemed erwarten übrigens 55 Prozent der Teilnehmer, dass die Grünen den neuen Bundesgesundheitsminister stellen. Ungeachtet des Ausgangs der aktuellen Sondierungsgespräche fordert Baum die neue Koalition schon heute auf, für Entlastung im Gesundheitswesen zu sorgen.
MDR verunsichert Medizinproduktehersteller und -zulieferer
Das tut auch dringend Not. Vor allem die Medizinproduktehersteller und -zulieferer sind derzeit stark verunsichert. Der Grund: Die neue Europäische Medizinprodukteverordnung. Zwar sind mit der Medical Device Regulation Fakten geschaffen, doch bietet die anstehende Ausführung der delegierten Rechtsakte durchaus noch Spielraum, die Belange der Industrie besser zu berücksichtigen, ohne dabei Abstriche bei der Patientensicherheit zu machen.
Als Beispiel nennt Kuhlmann die knapp bemessenen Übergangsfristen von nur drei Jahren. „Es ist heute schon absehbar, dass damit viele Unternehmen völlig überfordert sind. Hier besteht die Hoffnung auf Ausnahmen“, ist der Spectaris-Leiter zuversichtlich. Über die Mitgliedschaft und Mitarbeit in Verbänden und Clustern könnten Medtech-Hersteller hier ihre Belange in die entsprechenden Gremien einbringen und Einfluss nehmen.
Spectaris begleitet die Umsetzung der Anforderungen aus der neuen MDR auch durch die aktive Mitarbeit im vom Bundesministerium für Gesundheit initiierten nationalen Arbeitskreis zur Implementierung der MDR (NAKI). Mitgliedsunternehmen werden hierzu diverse Veranstaltungen angeboten.
Sieben unangekündigte Audits bei einem Sensorhersteller
Mit einem Negativbeispiel aus der Praxis macht IVAM-Geschäftsführer Dietrich den Handlungsbedarf deutlich. Er weiß von einem Sensorhersteller zu berichten, der seine Produkte an sieben verschiedene Medtech-Hersteller liefert. So weit so gut. Doch besagter Sensorhersteller wurde in kurzer Zeit auch sieben Mal mit unangekündigten Audits „beglückt“. Hier bedürfe es dringend einer besseren Abstimmung. „Dem enormen Aufwand an Zeit und Kosten steht null Zugewinn an Patientensicherheit gegenüber“, macht Dietrich deutlich.
Ebenfalls null Zugewinn an Patientensicherheit bedeutet auch die Rezertifizierung bereits zugelassener Medizinprodukte nach der neuen MDR, beklagt Hans-Peter Bursig, Geschäftsführer des Fachverbandes Elektromedizinische Technik im Zentralverband Elektrotechnik und Elektronikindustrie (ZVEI). „Da wird ein enormer Aufwand betrieben, ohne eine einzige Änderung beziehungsweise Verbesserung an den Produkten vorzunehmen.“ Der Bundesverband Medizintechnologien BV-Med rechnet in diesem Zusammenhang mit zusätzlichen Kosten in Höhe von 800 Mio. Euro.
Eine Katastrophe für den deutschen Mittelstand
„Damit schießt die MDR klar über das Ziel hinaus. Das ist auch vor dem Hintergrund höchster Patientensicherheit nicht zu rechtfertigen“, findet Dietrich klare Worte, zumal er feststellen muss, dass Mitglieder seines Verbandes zum Teil schon aus völliger Verunsicherung heraus keine neuen Produkte mehr für die Medizintechnik entwickeln wollen. „Ein solcher Tritt auf die Innovationsbremse ist eine Katastrophe für den deutschen Mittelstand!“ Wichtig sei daher, KMU-gesteuerte Technologien ins Bewusstsein der gesundheitspolitischen Entscheidungsträger zu bringen. „Die MDR ist nicht zu ändern, aber die Durchführung – und zwar ohne die Sicherheit zu gefährden.“
Technologievertretern mehr Gehör verschaffen
Dietrich will Technologievertretern daher mehr Gehör verschaffen, zum Beispiel im Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA, wo dies bislang nur indirekt möglich sei, unter anderem über Stellungnahmen von Spectaris. Flankierend zu den strukturierten Prozessen über die einschlägigen Verbände als Einzelunternehmen auch die lokalen Bundestags- und Europaabgeordnete anzusprechen, ist für Dietrich aber durchaus auch ein Mittel der Wahl.
Fazit: Die Medtch-Branche hat grundsätzlich gute Voraussetzungen für weiteres Wachstum. Aber die Rahmenbedingungen werden gerade verschlechtert. Dagegen anzugehen ist auch eine Selbstverpflichtung. Was es dafür braucht, sind unter anderem fundierte Informationen. Die gibt es auf der Medica/Compamed. Rund 2.000 Vorträge, Expertengespräche, Podiumsdiskussionen etc. dazu werden dieses Jahr auf der Messe in Düsseldorf angeboten. Für Medizintechnikhersteller besonders interessant: Das Compamed Suppliers Forum verspricht Antworten auf alle aktuellen Fragen. Mit Vorträgen zu Entwicklung, Konstruktion, Einkauf, Produktion, Qualität und Regulatory Affairs wird die gesamte Wertschöpfungskette abgedeckt.
Cyber-Security: aktuelle Bedrohungslage und Handlungsempfehlungen
Es wird in diesem Jahr ergänzt durch ein Expertengespräch „Cyber-Security: aktuelle Bedrohungslage und Handlungsempfehlungen“, einem der drängendsten Themen überhaupt, wie zahlreiche Vorfälle in jüngster Zeit deutlich gemacht haben. „Um Cybersicherheit muss man sich immer Gedanken machen“, erklärt dazu ZVEI-Experte Bursig. Aber man müsse auch nicht in Panik verfallen. Medizingeräte seien zwar in der Regel sicher konzipiert, sie müssten aber auch in sicherer Umgebung betrieben werden. Daher hält es Bursig für richtig, dass Krankenhäuser ab einer bestimmten Größe künftig als „Kritische Infrastruktur“ eingestuft werden und eine Risikoanalyse entsprechend den Vorgaben durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik BSI erbringen müssen. „Wenn alle Beteiligten auf dem Stand der Technik arbeiten, muss man sich keine allzu großen Sorgen machen“, so Bursigs Einschätzung. Damit dem so ist, stellt der ZVEI kommenden Dienstag auf der Messe eine Empfehlung für Cybersicherheit in der Medizin vor: das Grünbuch Digitalisierung. Ein weiterer Grund, sich die Medica/Compamed nicht entgehen zu lassen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich beiDevicemed.
(ID:45005237)